Mountain-Man Nesselwang 17.10.20

von Denise Kottwitz

Ein Marathon in alpinem Gelände? Ja, irgendwann mal... dann entdecke ich den Mountainman, der in diesem Jahr sein Rennen im Allgäu (Nesselwang) von Mai auf Oktober verschoben hat. Genau das richtige denke ich sofort: 1) muss man für so eine Aktion gut fit sein und das trotz aller Umstände fleißige Training dieses Jahr soll doch noch belohnt werden; 2) war ich in diesem Jahr recht oft wandern und 3) kann man sich im flachen Berlin/Brandenburg sowieso nicht spezifisch vorbereiten – so dass eine kurzfristige Absage verschmerzbar wäre. Dennoch sieht das Lauftraining in den Wochen davor manchmal anders aus: Laufen mit voller Ausrüstung (da geht der Puls gleich mal zehn Schläge nach oben), Koppeltraining (Laufen + Wandern) und Wechseltraining (Stöcke ein- und auspacken oder das Füllen der Trinkblase nach Geschwindigkeit).

Der Mountainman Nesselwang bietet vier Strecken an, die man auch als Starter mit Hund bewältigen kann. Bis auf die längste Strecke kann man sich auch als Wanderer melden, mit Zeitnahme aber ohne Wertung. Die Originalstrecke führt durch die österreichische Enklave Jungholz (zeitweise vom RKI als Risikogebiet deklariert), so dass kurzfristig alle Strecken auf rein deutschen Boden verlegt wurden und folgende Anforderungen hatten:

Die kurzen Strecken würden erst am Sonntag stattfinden, wobei wenige Starter auch Samstag zugelassen wurden. Dies ist für uns dann ganz praktisch, da mein Mann sich die M Strecke als Wanderer vorgenommen hat und wir so am gleichen Tag das Erlebnis teilen können.

Die Wettkampfbesprechung findet per Video online statt, außerdem gibt es aktuelle Fotos von der Strecke: viel Schnee und noch mehr Matsch. Temperaturen werden -1 bis 8 Grad erwartet. Am Vormittag ist noch etwas Niederschlag angesagt – das macht die Kleiderwahl nicht einfach! Und irgendwo muss ja noch die gesamte Ausrüstung hin.

Ich bleibe bei meinen langen Socken und kurzer Hose – da diese Taschen an den Oberschenkelseiten außen hat: 2 Gele links, Taschentücher rechts. Ich ziehe aber noch eine knielange Hose drüber – gute Entscheidung es wäre doch zu kalt geworden. Langes Unterhemd, Winterlaufshirt mit Kapuze und Fäustlingen falls es sehr kalt wird (werde ich zum Glück nicht brauchen). Darüber ein leuchtendes Shirt damit man mich im Nebel besser sieht. In den Rucksack kommt ein Teil der Pflichtausrüstung: Trinkblase mit 1 Liter Wasser, erste Hilfe Set mit Rettungsdecke und Trillerpfeife, Stirnlampe… und in die Lücken stopfe ich noch irgendwie die Regenjacke. Dazu ein Laufgurt, woran ich die Stöcke befestige. Außerdem kommt da das Handy rein (unter A ist die Nummer der Bergwacht und die der Rennleitung gespeichert) und ein faltbarer Trinkbecher – ebenfalls Pflichtausrüstung. Dazu noch etwas Verpflegung und dünne Handschuhe. Auf den Kopf ein Tuch, um den Hals auch – letzteres wird vor allem als Gesichtsmaske im Start/Ziel Bereich und an den Verpflegungsstationen Verwendung finden.

So stehe ich im Morgengrauen mit etwa 120 Läufern an der Startlinie, alle schön mit Abstand und mit Maske. Viele haben schon die Stöcke ausgepackt, ich habe will den ersten Teil erst mal ohne bewältigen, da dieser den Wasserfallweg mit Metalltreppen beinhaltet. Es geht erst bergan über Asphalt, dann noch steiler durch Matsch. Die Dimension lässt sich kaum beschreiben. Hoch konzentriert auf den Boden starrend und irgendwo einen Abdruck finden um nicht komplett zu versinken. Was für ein Irrsinn. Ich überlege, die Stöcke auszupacken, aber dann muss ich die auch noch koordinieren! Da neben dem schwierigen Untergrund auch die anderen Läufer mit wedelnden Stöcken um mich rum sind, lass ich es sein. Das Stück ist irgendwann überwunden und die gewonnen Höhenmeter darf man gleich wieder runter. Auf einem breiten Weg im Laufschritt, der durch Abwasserrinnen aus Felsblöcken immer wieder ausgebremst wird.

So gelangen wir an den legendären Wasserfallweg. Erst mal ein Foto, dann geht es die vielen Stufen hinauf. Die Ausblicke auf das Wasser sind herrlich. Es ist trotz der vielen Läufer, die sich im Gänsemarsch bergauf quälen, recht ruhig. Mir ist das Tempo fast zu langsam, also nutze ich die Zeit für etwas Verpflegung. Die Treppenstufen sind geschafft, statt Matsch liegt jetzt Schnee auf dem Boden. Wir biegen in den Wurzelweg ein und ich hole die Stöcke raus, um die nächsten Meter durch den Wald zu bewältigen. Bald ist das Sportheim Böck erreicht, 1:05h für knapp 5 Kilometer. Ich lasse die Versorgungsstation aus und durch tiefen Schnee geht es weiter bergan auf den Alpspitz-Gipfel. Hier grüßt die Bergwacht, dann geht es steil bergab. Wurzel, Steine, Matsch. Mich überholen ein paar Männer in unglaublichem Tempo, ich schlittere hin und her und bremse mich ordentlich, um mich nicht lang zu legen. Nach 7 Kilometern erreichen wir einen Fahrweg, der bergab geht. Nun kann man das erste Mal laufen. Anfangs macht es irre Spaß, dann merke ich die Oberschenkel und irgendwie stören die Stöcke in der Hand. Ich überlege diese gerade zu verpacken, da geht es wieder bergan. Hunger macht sich bemerkbar, also einen Riegel verdrückt und prompt gibt es auch eine Verpflegungsstation. Also den Becher rausgeholt und bei einer kurzen Pause ordentlich getrunken.

Dann geht es durch den Wald wieder bergan. Mich überholen die ersten Läufer der L Strecke, die fast eine Stunde später gestartet sind – unglaublich. Die Bäume hören auf und vor mir liegt der Gipfel der Reuter Wanne, noch mehr Schnee als zuvor. Unter dem Schnee ist es matschig. Also zwei Schritte hoch, einen zurück. Was für ein Schauspiel durch den Nebel die Läufersilhouetten zu erkennen. Am Gipfelkreuz grüßt wieder die Bergwacht, danach wieder ein sehr komplizierter Abstieg, der wieder in einen breiten Weg übergeht. Dann ist noch ein Anstieg zu bewältigen, einfach direkt und steil die Wiese hoch. Puh. Aber das Hinweisschild "Alpe Blösse" motiviert, denn da gibt es wieder Verpflegung. Es sind 17 Kilometer geschafft – in 3,5 Stunden. Erstmals rechne ich hoch: bis zum Zielschluss sind noch 6 Stunden Zeit... aber bei Kilometer 30 gibt es um 15.00 Uhr einen Cut-off. Also die nächsten 13 Kilometer dürfen nicht viel langsamer sein. Ich bin aber optimistisch, denn laut Höhenprofil geht es bergab und dann recht flach. Vorher gönne ich mir aber erst mal ein Käsebrot. Also Maske rauf, Trinken und Brot geschnappt, auf Abstand gegangen und dann – wie lecker!!!

Ich verpacke die Stöcke, vielleicht zu optimistisch denn der weitere Weg nach unten ist zwar breit aber durchaus schlammig. Einen Sturz kann ich weiterhin verhindern, und freue mich den Spazierweg entlang des Grüntensees zu erreichen. Im Laufschritt geht es am Ufer entlang, die Sonne kommt raus. Mir wird warm, also werden die Tücher vom Kopf gerissen und die Ärmel hochgestreift. Die Regengefahr scheint wohl durch. Die Berggipfel sind allerdings weiterhin in den Wolken, schade für meinen Mann – der nämlich erst 3 Stunden später gestartet ist und jetzt irgendwo da oben durch den Schnee kämpft.

Das Laufen wird zunehmend schwerer, schließlich bin ich schon über 4 Stunden unterwegs. Wirklich flach ist die Strecke auch nur kurz. In stetigem Auf und Ab geht es weiter – mal breite Wege, mal schmale Pfade. Mal bin ich in Gesellschaft, mal allein. An einer Versorgungsstation fülle ich die Trinkblase auf und hätte Appetit auf etwas Herzhaftes, aber es werden nur süße Riegel angeboten. Also rein damit, Hauptsache der Energiehaushalt passt – auf jeden fall bin ich noch gut drauf. Nur die Oberschenkel melden sich zunehmend, vor allem wenn es bergab geht. Den Cut-off-Punkt erreiche ich schon gegen zwei und kann beruhigt den letzten Gipfel angehen.

Aber zuerst muss ich noch mal ein großes Stück durch den matschigen Weg vom Anfang. Die kurze bergab Passage brennt dann höllisch in den Oberschenkeln und ich bekomme schon Angst vor dem letzten Stück. Aber erst mal geht es steil bergan, parallel zum Wasserfallweg. Es fängt an zu Regnen, also die Jacke angezogen und der matschige Weg erhält noch einen schönen Glanz. Ich bin teilweise ganz allein in dieser Naturgewalt. Weiter oben hört der Regen auf und auf den letzten Metern wird man vom Versorgungsteam nach oben gebrüllt und mit einem „nur noch 7 Kilometer bergab“ auf die weitere Strecke geschickt. Wie beunruhigend. Ich gönne mir noch Kuchen und einen Tee, dann geht es los. Die Oberschenkel brennen so, dass ich fast nicht mehr laufen kann. Schade, denn es geht auf breitem Schotterweg in Serpentinen nach unten – man könnte es also einfach rollen lassen. Ein Blick auf die Uhr lässt mich das Ziel "unter acht Stunden" setzen. So motiviere ich mich auf den etwas flacheren Stücken zu rennen, in den steileren Kurven muss ich gehen. Eigentlich müsste ich noch mal pinkeln, gebe den Versuch aber auf. Ich kann unmöglich in die Hocke gehen. Ich kann mich nicht daran erinnern eine Muskulatur so ausgereizt zu haben. Die letzten zwei Kilometer gehen noch mal durch die Wald und einen Teil der matschigen Piste bergab. Ich habe noch zwanzig Minuten Puffer für mein Ziel.

Was für eine wahnwitzige Rechnung: 20 Minuten für 2 Kilometer! Aber ich schaffe es gut, ohne Stürze und den Zieleinlauf dann noch im Laufschritt. Nun darf ich mich "Held der Berge" nennen. Die Farbe meiner Schuhe hat sich von orange in schwarz verwandelt. Ich erreiche die Top Ten und gewinne meine Altersklasse. Klingt gut, aber an diese Herausforderung haben sich nur 13 Frauen getraut (auf der L Strecke waren es schon 52 Frauen). Die einzige AK Konkurrentin schlage ich mit 2 Minuten, was mal wieder bestätigt, dass es sich lohnt bis zum Schluss zu kämpfen. Die schnellste Frau des Tages war 2,5 Stunden (!) schneller als ich, was sich mir jeder Vorstellungskraft entzieht.

Mein Mann hatte auch vor allem mit den glatten bergab Passagen zu kämpfen und es wird zeitlich knapp. Ich gehe ihm entgegen und brülle ihn über die letzte schlammige Passage – aber er erreicht nach etwa sieben Stunden nur zwei Minuten vor Zielschluss das Ziel und erhält stolz die Medaille. Wenn ich den Artikel am Wettkampftag geschrieben hätte, würde er so enden: eine grandiose Erfahrung die auch für Flachlandtiroler mit guter Ausdauer zu bewältigen ist. Sicherlich wird es in den nächsten Tagen etwas Muskelkater geben. Nun schreibe ich diesen Artikel aber zehn Tage nach dem Rennen und mein Fazit ist so: eine grandiose Erfahrung dessen Belastung erst in den Tagen danach richtig zur Geltung kommen. Ja, ich habe den Muskelkater meines Lebens und den Kommentar meines Mannes: "Ich habe Dich noch nie so lädiert gesehen" bekommen. Dass man die Treppen besser quer runtergeht oder sich beim Setzen abstützen muss, kenne ich schon. Aber zwei schlaflose Nächte wegen brennender Oberschenkel und dass man nach zehn Tagen immer noch mit Schmerzen in die Hocke geht, lässt mich zu dem Entschluss kommen, so einen Lauf demnächst doch spezifischer mit Ausflügen in die Berge vorzubereiten. Trotzdem, es war super!

 


© TriGe Sisu Berlin; 28.10.2020