Club des Cinglés (Club der Verrückten) 29.8.2022

von Martin Seller

Ich habe schon lange keinen Erfahrungsbericht mehr geschrieben, aber auch wenn es sich nicht um ein Rennen handelt, ist es allein der Titel wert, darüber zu berichten und es für Andere schmackhaft zu machen.

Den Mont Ventoux umgibt eine gewisse Mystik. Er wird auch als Gigant der Provence genannt und um diese Mystik aufrecht zu erhalten, nur aller paar Jahre ins Programm der Tour der France aufgenommen. Er ist zwar „nur“ knapp 1.909m hoch, aber durch sein Aussehen einfach imposant.

Im April 2017 sind Dani und ich im Rahmen einer Hochzeitreise den Mont Ventoux raufgefahren. Seit dem hat mich die Mission Club des Cinglés nicht losgelassen. “Cinglés du Mont-Ventoux„, “Verrückte vom Mont Ventoux„, nennen sich die Mitglieder eines exklusiven Clubs, der 1988 gegründet wurde, zu dem man nur Eintritt erhält, wenn man den Giganten der Provence innerhalb eines Tages dreimal hinaufgefahren ist: Von den Startorten Bédoin, Malaucène und Sault – ein Ritt mit 136 Kilometern und 4443 Höhenmetern, eine Hommage an den Mythos Mont Ventoux.

Man meldet sich vorab im Internet auf der Website des Clubs an, bekommt eine Stempelkarte zugeschickt und muss sich an den einzelnen Etappenorten einen Stempel abholen. So kam es nun, da wir im Spätsommer einen Trip mit dem Wohnmobil nach Südfrankreich geplant hatten, dass dieses Projekt in die Realität umgesetzt werden soll. Zusammen mit meinem Bruder und einem Freund hatten wir uns an einem Montagmorgen um 06:30 Uhr auf die Tour aufgemacht. In der Regel starten die meisten mit der Auffahrt von Bédoin, die von allen drei Auffahrt als die Schwierigste gilt.

Da unser Campingplatz aber in Malaucène lag, entschieden wir direkt von dort zu starten. Also ging es in der Dämmerung los in den Ort einen Bäcker oder ähnliches suchen, der uns den ersten Stempel geben kann. Und tatsächlich haben wir einen Restaurantbesitzer gefunden, der gerade sein Lokal aufgeschlossen hatte. Die Leute sind es dort gewöhnt, so gibt es auch keine komischen Rückfragen mehr, warum man um die Zeit bereits mit dem Rennrad unterwegs ist.

Und los ging es. Vorab, ich habe es echt unterschätzt. Da auf Zwift eine digitale Variante des Aufstiegs von Bedoin aus existiert (Vent Top), habe ich diese im Vorfeld ein paar Mal als Training ausprobiert. Meine Überlegung war, die Auffahrten im Wattbereich einer Halbdistanz zu absolvieren und sich dann in den Abfahrten zu erholen.

Jede Auffahrt hat um die 21-25km und man ist ca. 1:40h bis knapp 2h bergauf unterwegs. Die Abfahrten dauern entsprechend ca. 30min, je nach Skills und Risikobereitschaft. Die erste Auffahrt von Malaucène ist die landschaftlich schönste Auffahrt, da man viel vom Hinterland und anderen Bergketten sieht, was als Ablenkung echt Gold wert ist.

Da man den Westhang des Berges rauf fährt, befindet man sich morgens eigentlich die ganze Zeit im Schatten, was noch recht angenehme Temperaturen bedeutet (angefangen bei 16 Grad im Tal, 10 Grad auf dem Gipfel). Ein weiterer Unterschied zu den anderen Auffahrten ist, dass man den Gipfel erst kurz vor Ende das erste Mal erblickt. Dafür ist der Anblick des Turmes umso beeindruckender.

Um ca. 08:30 Uhr waren wir nun das erste Mal oben. Bis auf 2 weitere Mitstreiter aus England, die von Bédoin aus gestartet sind, war niemand da. Das sollte sich im Laufe des Tages ändern. Also kurz Windweste an, Riegel vertilgt und ab nach Bédoin runter. Bereits auf der Abfahrt kamen uns Massen an Radfahrer jeglicher Art (Rennrad, E-Bikes, Tourenbikes,etc.) entgegen.

Unten in Bédoin angekommen sind wir zum nä. Bäcker rein uns die Karte abstempeln lassen, 2-3 Croissants verdrückt und wieder rauf auf’s Rad die zweite Auffahrt in Angriff nehmen. Kurz nach 10:00 Uhr sind die Temperaturen schon an die 30 Grad ran angestiegen und der schwerste Anstieg erwartete uns.

Es gab von Malaucène aus giftigere Abschnitte zu bewältigen, dafür gab es auch einige Passagen mit milderen Steigungen, um sich etwas zu erholen. Die fehlten jetzt bei dem Anstieg komplett. Daher ist es auch der Schwerste. Und das war klar zu spüren. Die anvisierten Wattwerte waren bei Weitem nicht mehr realisierbar. Es war zu warm, zu steil, zu weit.

Gott sei Dank kommt 6km vor dem Gipfel das Chalet Reynard, ein Restaurant auf 1.400m Höhe, wo man kurz pausieren und seine Flaschen wieder auffüllen kann. 2 Snickers, 2 Flaschen Cola und 3 Flaschen Elektrolytgetränk später (ja, es waren wirklich 2,5 Liter, die ich mehr oder weniger am Stück ausgetrunken habe), konnte ich die letzten 6km in Angriff nehmen.

Oben angekommen war inzwischen die Hölle los. Neben den ganzen verschiedenen Radfahrern, die den Aufstieg einmal für den Tag bewältigt haben, waren allerlei Touristen im Auto, Oldtimer, Rennwagen etc. vor Ort. Es war inzwischen kurz nach 12:00 Uhr. Die Beine brannten, der Akku war eigentlich leer (nicht vom Garmin) und eine Auffahrt fehlte noch.

Zum Glück ist diese die Entspannteste von allen. Sie ist zwar ein paar Kilometer länger, aber logischerweise daher nicht ganz so steil. Das Gemeine an der Sache ist allerdings, dass nach der Abfahrt nochmal ein Gegenanstieg in den Ort Sault auftaucht, der aber bewältigt werden muss, um den wichtigen Stempel für die Karte zu bekommen.

Eine riesige Portion Pasta Carbonara (die unbestritten beste Carbonara, die ich jemals gegessen habe) und ein Liter Zitronenlimonade entschädigten für den Schmerz. Mit gefühlt 3 KG mehr Gewicht an Bord ging es nun zum Finale. Die Straße war wieder totenstill. Lediglich einen Fahrer habe ich überholt und mich mit ihm kurz halb Französisch, halb Englisch über die Tortour unterhalten (um dann später am Gipfel festzustellen, dass er Deutscher war) Anschließend bin ich dann bei 36 Grad wieder peu à peu in die Unterzuckerung gekurbelt. Glücklicherweise kommt auch bei dieser Auffahrt wieder das rettende Chalet Reynard 6km vor dem Gipfel. Das ich für eine 0,5l Flasche Cola wieder über 5 € zahle, ist mir sowas von egal. Ich hätte vermutlich auch das Doppelte bezahlt. Ich glaube genau das weiß der Betreiber auch. Die letzten 6km sind nur noch Kopfsache. Man weiß, dass es danach geschafft ist und nur noch bergab geht.

Am Gipfel war ich ca. gegen 3, halb 4. Es waren nur noch vereinzelt Radfahrer und Touristen zu sehen. Die Massen waren längst wieder weg. Jetzt noch den letzten ersehnten Stempel abholen und das Ding ist durch. Die Abfahrt nach Malaucène ist dann ein reiner Genuss. Dachte ich zumindest. Aber ich brauchte nochmal alle Schutzengel an diesem Tag. Denn bei ca. 60/70km/h bricht mir in einer Kurve das Hinterrad weg. Ich konnte mich gerade noch wieder fangen, bevor ich dem Felsen zu Nahe gekommen bin. Die Ursache war ein Schleicher, der aber fast den Reifen von der Felge brachte. Aber alles gut gegangen. Schlauch gewechselt und die letzten Kilometer zum Zeltplatz gerollt.

Letzte Woche habe ich nun meine Stempelkarte in die Post geworfen und nach Frankreich geschickt. Ich soll nun eine Medaille zurück erhalten mit einer Nummer, meiner Mitgliedsnummer im Klub der Verrückten!

Südfrankreich ist wunderschön, immer eine Reise wert. Der weiße Riese Mont Ventoux ist dabei nicht wegzudenken. Gerade als Radfahrer. Ob man das Ding dreimal hoch muss? Ansichtssache. Aber wir Triathleten sind doch eh verrückt. Dann doch auch bitte offiziell!

P.S. Es gibt noch eine vierte Auffahrt. Die führt allerdings über Waldwege und Geröll und muss daher mit einem Gravel oder MTB bezwungen werden. Dann wird man zum Galérien, zum „Sklaven“ des Ventoux. Und man kann das Ding auch 6 mal hoch (also jede Auffahrt zweimal). Heißt dann Bicinglette, was so viel wie „doppelt verrückt“ bedeutet.

 


© TriGe Sisu Berlin; 16.9.2022